Armin Öhri
WINNER
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Biography
Armin Öhri was born on September 23, 1978. He grew up in Ruggell, the northernmost village in Liechtenstein. He studied history, philosophy and German linguistics and literature. Since 2009, he has published a variety of stories and novels in two independent publishing houses, including the well-respected German publisher Gmeiner. His works tend to be set against a historical backdrop and are based primarily on literary examples of the 19th century, such as entertaining feuilleton novels that fall into the crime genre. Öhri works in the education field at a business school in Switzerland.
Nominated book : Die dunkle Muse (The Dark Muse)
Summary
The Dark Muse – the first part of a chronological series of linked novels – is a complex historical crime story that turns the established formula of a whodunnit upside-down: on the very first pages the reader already gets to know the murderer, a gentle professor of philosophy. Hereafter, the audience is given the opportunity to deduct why a young prostitute was killed. The novel thereby gains in tension, so one wonders if the culprit will squirm out of the snare of the law and what his motives were to commit the crime. Several chapters describe the suspenseful court procedure against the delinquent professor Botho Goltz and show how this brilliant mind causes the charges brought against him to collapse like a house of cards.
The semi-professional detective in Armin Öhri’s novel, Julius Bentheim, is a young Prussian student that (due to his drawing talents) helps the local police as a draughtsman for crime scenes. Through the eyes of this protagonist, the reader follows the ambitious story through the streets and infamous sites of late 19th century Berlin. Major historical events in The Dark Muse are not just a convenient frame to stage the narrative: quite the reverse, the writer wants to gain perspective on society and on the human condition. Extensive research work has been done by Öhri to portray the historical backdrop and atmospheric local colour. Many descriptions of Berlin in 1865 were formulated on the basis of original sources and scientific works and are embedded in the narrative. Furthermore, the handful of non-fictional characters who appear and play prominent parts in Öhri’s series include Fontane, Virchow, Bismarck, Moltke, and Retcliffe. Some of the published praise for The Dark Muse include the words “unique”, “thrilling and highly recommended”, “striking milieu descriptions”, and “a psychologically crafty game of cat-and-mouse”.
claudia.senghaas@gmeiner-verlag.de
Albania: Dituria
Croatia: Naklada Ljevak
Greek: Vakxikon
Italy: Atmosphere Libri
Spain: Impedimenta

Excerpts
Zweites Kapitel
Die Nachricht von Lene Kulms Ermordung erreichte den Kriminalkommissar Gideon Horlitz in den frühen Morgen- stunden. Als der pausbäckige Polizeiaspirant, den man mit einer Eilnotiz geschickt hatte, ihn endlich fand, war er gerade dabei, den Ort einer menschlichen Tragödie zu besichtigen. Mehrere Leute schwärmten um ihn herum, die meisten in Uniform, angeregt diskutierend, mit Maßbändern und Richt- schnüren das Zimmer absteckend. Einer allein bewegte sich nicht mehr: Er hing an einem Seil von der Decke, unter ihm ein umgekippter Stuhl.
Die besagte Gruppe hatte sich etwas außerhalb des alten Stadtkerns in einer jener Nebengassen eingefunden, die nicht von Pferdekarren, Arbeitern und Bummelanten verstopft war. Der Raum selbst, in dem die Männer den Selbstmord untersuchten, gehörte zu einer Laube im hinteren Teil eines ausgedehnten Grundstücks, die ihrem Besitzer wohl als Rückzugsort gedient hatte, um vom Wüten der Welt Erholung zu finden.
Kommissar Horlitz beugte sich vor, um die Arbeit seines Tat- ortzeichners besser betrachten zu können. »Gute Arbeit, Ben- theim. Da zeigt sich wieder mal Ihr Talent.«
Julius Bentheim sah kurz auf und lächelte dankbar. Er war 19 Jahre alt und verdiente sich dank seines Talents ein Zubrot für sein Studium der Rechtswissenschaften. Mit dem Daumen fuhr er auf dem Pastellpapier über eine Stelle, die
er für schlecht gelungen ansah, und verwischte einen kleinen Flecken Kohle. Er griff vorerst nach einem Kreidestift, dann nach einem Wachsstift und verbesserte den Bildausschnitt. Hin und wieder riefen ihm die Polizisten Längen- und Höhen- angaben zu. Den Grundriss des Tatorts hatte er im Maßstab 1: 25 angefertigt und nun fehlten lediglich einige wenige Details, um die Zeichnung zu vollenden.
Bald war seine Arbeit getan und er verfolgte konzentriert das Gespräch zwischen Gideon Horlitz und dem Boten aus dem ehemaligen Palais Grumbkow, dem Standort der Polizeiverwaltung.
»Professor Goltz, sagten Sie?«
Der junge Mann nickte und ein aufgeregtes Funkeln schoss aus den Augen seines Vorgesetzten.
»Potztausend! Ein kapitaler Fang.«
»Deswegen ist auch dringend Ihre Anwesenheit vonnöten, Herr Kommissar. Das ist ein gefundenes Fressen für die Zei- tungsfritzen. Wenn die Wind von der Sache bekommen, ist es aus mit der Ruhe.«
»Wer ist vor Ort?«
»Vier, fünf Gendarmen, ein Untersuchungsrichter, ein Anwalt und Kommissar Bissing.«
Horlitz hob eine Augenbraue. »Sagen Sie mal, wenn Sie schon einen Kommissar haben, wozu brauchen Sie dann mich bei der ganzen Chose?«
»Bissing kennt den Professor persönlich«, erklärte der Bote.
»Aha, verstehe.« Der Blick des Kommissars schweifte unstet im Zimmer umher, bis er auf seinen Tatortzeichner fiel. Später sollte sich Julius Bentheim mit quälender Schärfe an diesen
Zeitpunkt zurückerinnern. Es war der kritische Moment, an dem die Weichen in seinem Leben gestellt werden sollten. Und die Schicksalsgöttin hatte sich unerbittlich entschieden, ihn in die Abgründe der menschlichen Seele blicken zu lassen.
»Herr Künstler«, sprach Horlitz ihn an,»es tut mir leid; Ihre Arbeitszeit wurde soeben verlängert.«
Das Leben in der Marienburger Straße erwachte allmählich. Die ersten Fuhrwerke holperten über das Kopfsteinpflaster, die Bäuerinnen brachten ihre Waren von außerhalb zu den Märkten in der Stadt. Von dem Verbrechen im Dachgeschoss hatten die Bewohner der Mietskaserne jedoch nichts mitbe- kommen. Julius Bentheim saß gegenüber dem Kommissar in einem Landauer, einer viersitzigen, vierrädrigen Kutsche, die sich von einem offenen in einen geschlossenen Wagen umwandeln ließ. Da die Julinacht schwül gewesen war, fuhren sie mit offenem Verdeck. Schweigend hatten sie etwas weniger als eine halbe preußische Meile zurückgelegt, als der Kutscher ihr Ziel erreichte und die Pferde anhielt.
»Steigen wir aus«, brummte Horlitz.
Sie schwangen sich aus dem Wagenschlag. Der junge Bentheim war gespannt wie ein Flitzebogen. Wenngleich sein Studium ihm kaum Freizeit ließ, liebte er doch die Aufträge, die ihn an die absonderlichsten Orte Berlins führten. Außerdem war die Bezahlung nicht schlecht. Es war hauptsächlich Nachtarbeit, die er verrichtete, und so bekam er einen Aufschlag zur übli- chen Entlohnung. Zumeist wurde er gerufen, um die Spuren eines Einbruchdiebstahls abzubilden. Hin und wieder kam er auch mit Kleinkriminellen, Huren und Zuhältern in Kontakt. Die Arbeit war vielfältig und voller Überraschungen; und das war es, was Julius daran mochte.
Vor dem Eingang wartete bereits ein Gendarm auf sie. Er nickte zur Begrüßung und öffnete den zwei Neuankömmlin- gen die Tür. In der Hand hielt er eine Laterne, deren Licht- schein den Eingang ausreichend erleuchtete. »Es ist ziemlich unübersichtlich hier drin. Ein wahres Labyrinth. Der Anwalt meinte, ich sollte unten auf Sie warten. Wo er recht hat, hat er recht.«
Sie erklommen die Treppenstufen, die wenige Stunden zuvor Lene Kulm gegangen war. Gideon Horlitz bemerkte schnau- fend: »Der Anwalt, der heute Dienst hat – ist der groß und hager, trägt seine Haare von einer Seite zur anderen über den Glatzkopf gekämmt?«
»Ja, Herr Kommissar.«
Bentheim glaubte, im f lackernden Licht der Laterne ein Lächeln zu erkennen.
»Dann ist es Theodor Görne.«
»Ja, so heißt er.«
»Hm.« Der Kommissar murmelte Unverständliches vor sich hin. Er war ein 53-jähriger Mann mit Bauchansatz. Seine grau melierten Haare trug er tadellos frisiert. 15 Jahre lang hatte er als Obristwachtmeister in einem Dragonerregiment Dienst geschoben, bis er in den Polizeidienst wechselte. Im November 1848 war er an der Auflösung der Preußischen Nationalversammlung durch die Armee beteiligt gewesen; ein Umstand, viel zu peinlich, um ihn je zu erwähnen.
Die Szenerie, die sich ihnen bot, als sie das oberste Stock- werk erreichten, hatte etwas Bizarres an sich. Mehrere Leute drängten sich auf engem Raum zusammen und behinder- ten sich gegenseitig. Rechts wurde eine Hausbewohnerin mit bleichem Gesicht von einem Gendarmen befragt; links im Flur erkannte man den blutbespritzten Leichnam einer jungen Frau. Ringsherum standen Männer in der Uniform der Schutzmannschaft Berlin.
Julius zog seine Mercier, die ihm ein Onkel einst vermacht hatte, aus der Westentasche und blickte auf das Zifferblatt.
»Wie spät?«, fragte Horlitz.
»4 Uhr 15.«
»Dann werden die ersten Mieter bald aufstehen. Das wird mir ein Theater geben, wenn die merken, dass die Polizei im Haus ist. Kommen Sie, Bentheim.«
Der ehemalige preußische Soldat bahnte sich einen Weg zu den Gendarmen am Tatort. An der rechten Mansardentür kauerte ein Mann am Boden. »Lene«, murmelte er unabläs- sig, »meine Lene.« Das Gesicht wirkte ausdruckslos und die Augen schimmerten glasig. Man konnte an seiner verstör- ten Miene deutlich das Leid ablesen. Gideon Horlitz waren volkstümliche Instinkte wie Mitleid für einen völlig Fremden unbekannt, doch den jungen Bentheim dauerte diese Kreatur.
Einer der Gendarmen deutete mit einem Kopfnicken zur zweiten Mansardentür, und Horlitz und Bentheim wandten sich um. Gemeinsam betraten sie die Dachwohnung des Pro- fessors. In dem Ofen in der Raummitte knisterte ein Feuer und verbreitete wohlige Wärme. Auf einem Stuhl vor der hinteren Paneelwand saß ein unförmiger kleiner Mann mit fuchsrotem Haarschopf. Der Anwalt namens Görne hatte sich über ihn gebeugt und redete ununterbrochen auf ihn ein. Etwas abseits, vor dem Gaubenfenster, unterhielten sich zwei Männer, von denen der eine Moritz Bissing war, jener
als befangen geltende Kommissar. Als er Horlitz erblickte, winkte er ihn heran.
»Gideon! Schön, dass du kommen konntest. Darf ich vorstel- len? Der Herr an meiner Seite ist Untersuchungsrichter Karl Otto von Leps.«
Sie reichten sich die Hände. Die des Richters, eines greisen- haften Mannes mit hagerem Schädel, war eiskalt.
»Sehr erfreut«, sagte Horlitz ehrerbietig.
Bissing fuhr fort: »Ich habe den Herrn Richter darüber infor- miert, dass der geständige Mörder wie ich Angehöriger des anthropologischen Renan-und-Feuerbach-Vereins sowie kor- respondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften ist. Herr Professor Goltz und ich haben uns bei verschiedenen Anlässen bereits getroffen und sind einan- der bekannt. Ich habe mir deshalb erlaubt, einen Boten nach dir auszusenden, Gideon, da ich wusste, dass du heute Nacht- dienst schiebst.«
»Kannst du mich aufklären, was inzwischen alles veranlasst wurde?«
»Herr Kommissar, verzeihen Sie, wenn ich mich einmische«, sagte der Richter. »Aber da Sie nun vor Ort sind, ist die Anwesenheit von Kollege Bissing nicht mehr vonnöten. Seine Bekanntschaft mit dem Täter ist heikel und ich entbinde ihn hiermit von seiner Aufgabe.«
Moritz Bissing verbeugte sich wortlos, klopfte Horlitz freund- schaftlich auf die Schulter und zog sich zurück. Karl Otto von Leps beäugte scharf den jungen Maler, der zwei Schritte hinter dem Kommissar stand und alles mit angehört hatte.
»Und Sie sind… ?«
»Mein Protegé«, antwortete Gideon an Bentheims Stelle.
»Gut, gut. Also, beginnen wir von vorn: Die Nachbarsfrau, eine verwitwete Frau Bettine Lützow, hat Alarm geschlagen. Ihrer Aussage nach pochte Professor Goltz in aller Seelenruhe an ihre Tür und eröffnete ihr, soeben einen Mord begangen zu haben. Die Lützow erschrak natürlich – wer kann ihr das verdenken? An den exakten Wortlaut des Geständnisses erin- nert sie sich nicht, aber ungefähr tat Goltz dies mit folgenden Worten kund: Ich habe gerade Ihre Nachbarin umgebracht.«
»Sagte er ›umgebracht‹ oder ›getötet‹? Oder sogar ›ermordet‹?«
»Eine unbeabsichtigte Tötung ist auszuschließen, wenn Sie darauf hinauswollen. Er muss methodisch vorgegangen sein. Opfer ist übrigens die 21-jährige Schlachtereigehilfin Magda- lene Kulm, von allen kurz Lene gerufen. Sie ist bei uns akten- kundig, da sie nebenberuflich der Prostitution nachging und auch schon aufgegriffen wurde.«
»Magdalene«, wiederholte der Kommissar sinnierend.»Nomen est omen. Und was geschah dann?«
»Der Professor ging seelenruhig in sein Zimmer zurück, wo er auf die eintreffenden Beamten wartete.« Der Alte deutete mit einer raschen Armbewegung auf den rothaa- rigen Mann.»Seither sitzt er auf seinem Stuhl und schweigt beharrlich.«
»Wer ist der arme Kerl auf dem Flur?«
»Wenn es nach der Lützow geht, der Verlobte von Fräulein Kulm. Meiner Meinung nach wohl eher ihr Liebhaber und Zuhälter. Aber man muss ihm zugestehen, dass er arg gebeu- telt ist. Nun zu Ihnen, Horlitz: Machen Sie was aus dem Fall. Gehen Sie dem Staatsanwalt zur Hand, bevor er wieder einen Bock schießt.« Er senkte die Stimme, als er hinzufügte: »Unter uns gesagt, alle wissen, dass er eine Schande seiner Zunft ist.«
Julius Bentheim sah beschämt zu Boden. Wenn es schon so weit kommt, dass ein Richter die eigenen Staatsanwälte kom- promittiert, festigt dies nur noch den schlechten Ruf, den die Justiz in den Augen der Bevölkerung besitzt. Am Mol- kenmarkt befanden sich Polizeipräsidium und Stadtvogtei gemeinsam im ehemaligen Palais des Oberfeldmarschalls von Grumbkow. Gleich daneben, im früheren Palais des Grafen von Schwerin, hatte seit 1771 das Kriminalgericht seinen Sitz genommen. Der gesamte Gebäudekomplex galt wegen der oft willkürlich ausgeübten Polizeigewalt als Ort des Schreckens.
Der Kommissar warf einen betrübten Blick auf Theodor Görne, der sich mit dem Verdächtigen abmühte, und zuckte ergeben die Achseln. »Mein lieber Julius, sehen Sie zu und lernen Sie. Und führen Sie das Protokoll. Das können Sie doch? Stifte und Papier haben Sie ja ausreichend zur Hand.« Er machte einen Bogen um den Ofen und bot dem Anwalt an, die Befragung zu übernehmen. Görne fuhr sich mit der Linken über den Kopf, um ein paar Haare glatt zu streichen, und nahm das Angebot erleichtert an.
»Ihr Mann«, sagte er knapp.
Gideon Horlitz ging vor dem feisten Kerl mit dem roten Bart in die Hocke und musterte ihn. Wie Rübezahl erschien ihm dieser mit seinem Bauch, seiner wilden, gesinnungslo- sen Miene. Zu seiner Überraschung zeichnete sich auf dem Gesicht des Professors ein Lächeln ab, und er sprach ihn sogar an: »Ah, der neue Herr Kommissar. Dann können wir endlich an die Arbeit gehen. Wir wollen doch keinen Justizskandal verursachen. Es ist löblich, dass der gute Moritz von sich aus in den Ausstand getreten ist. Nun, wie kann ich Ihnen dien- lich sein?«
Verdutzt sah Horlitz zu Bentheim, der inzwischen einen Graphitstift angespitzt und das Gesagte bereits in kursiver deutscher Stenografie zu Papier brachte. Er verwendete das System des Franz Xaver Gabelsberger, eines vor 16 Jahren ver- storbenen Ministerialbeamten aus Bayern. Es war praktisch und leicht zu entziffern, und Julius benutzte es auch für seine Vorlesungen an der Universität.
»Tja, äh«, stammelte Horlitz, »haben Sie uns etwas zu sagen, Herr Professor?«
»Ganz und gar nicht. Was diesen vertrackten Fall angeht, berufe ich mich auf mein Schweigerecht. Sobald Sie mich ins Palais Grumbkow überführt haben, möchte ich, dass mir ein Pflichtverteidiger an die Seite gestellt wird. Der soll sich um alles kümmern. Das wird es mir erleichtern, mich wieder meinen Studien zu widmen. All dieser Polizeikram ermüdet einen nur. Finden Sie nicht auch, Herr… ?«
»Gideon Horlitz.«
»Ah, Gideon. Einer der sechs Richter der Stämme Israels. Ein schöner Name. Übersetzt heißt er ›der Hacker, der Zerstö- rer‹. Hoffen wir, dass Sie diesen Kriminalfall nicht zerstören werden, Gideon. Oder dass der Fall nicht Sie zerstört.«
Ein diabolisches Grinsen huschte über seine Backen, bevor er wieder liebenswürdig und lammfromm aussah.
»Sie verweigern die Aussage?«
»Korrekt.«
»Gut, wenn Sie nicht reden wollen, hat das keinen Sinn. Ich werde Ihre Überführung an den Molkenmarkt veranlassen.«
»Sehr liebenswürdig. Es ist aber nicht so, dass ich mich völlig in Schweigen hüllen möchte, Kommissar. Für eine kleine
Plauderstunde bin ich leicht zu haben. Sie dürfen das Thema wählen. Literatur, Philosophie, Musik – was hätten Sie gern?«
»Wie wäre es mit Medizin? Die Pathologie der Irren?«, entfuhr es Horlitz heftig.
»Na, na, Herr Kommissar! Warum denn gleich so aufbrau- send? Um Ihnen in Ihrer schwierigen Situation Verständnis entgegenzubringen, werde ich Ihnen einen Rat geben.«
»Einen Rat?«
»Ja, einen Rat. So etwas wie eine Empfehlung, ein Fingerzeig, wenn Sie so wollen: Lassen Sie eine Inventarliste anlegen.«
Gideon Horlitz richtete sich zu voller Größe auf. Seine Miene war wieder undurchdringlich. Julius Bentheims Graphitstift ruhte untätig auf dem Papier. Interessiert beobachtete der Tatortzeichner seinen Mentor, der den Kiefer bewegte und mit den Zähnen knirschte. Mit einer unwirschen Handbe- wegung forderte der Polizeibeamte den Professor schließlich auf, sich zu erheben. Ein Gendarm, der die Szene vom Flur aus mitverfolgt hatte, trat heran.
»Führen Sie ihn ab.«
Botho Goltz ließ sich widerstandslos zur Tür geleiten. Der junge Bentheim blickte ihm nach. Bevor der Mann mit den roten Haaren im Flur verschwand, hörte er ihn noch sagen:
»Wird allmählich kälter, meinen Sie nicht? Ist wohl an der Zeit, noch ein Stück Brennholz nachzulegen…«
Excerpt translated by Jonathan Huston
Chapter 2
The news of Lene Kulm’s murder reached Inspector Gideon Horlitz in the early morning. When the chubby-cheeked police trainee who had been entrusted with the urgent message finally found him, he was just visiting the site of a different human tragedy. Several people swarmed around him, most of them in uniform, talking excitedly among themselves, sur- veying the room with measuring tapes and plumb lines. Only one person was no longer moving: he was hanging from the ceiling on a rope, an overturned chair beneath him.
The group had come together just outside the old city centre in a side alley that was not clogged with horse carriages, workers and dawdlers. The room itself where the men were investigat- ing the suicide was at the back of an extensive property, part of an arcade that probably had served as a retreat for its owner from the raging of the world.
Inspector Horlitz leaned over to get a better look at the work of his crime scene artist. “Good work, Bentheim. That’s another fine display of your talent.”
Julius Bentheim looked up briefly and smiled with gratitude. He was 19-years-old and used his sketching to earn some extra money for his legal studies. On the pastel sheet of paper, he thumbed over part of the drawing he thought was less success- ful, and he rubbed out a small splotch of coal. First, he reached for a piece of chalk, and then a wax pencil, improving the
detail. From time to time, the policemen called out length and width measures to him. He had sketched the crime scene on a 1:25 scale, and now only a few small details were missing to complete the drawing.
Soon his work was done, and now he focused on the conversa- tion between Gideon Horlitz and the messenger from the former Grumbkow Palace, where the police headquarters were located.
“Professor Goltz, you said?”
The young man nodded and an excited sparkle shot out of his superior’s eyes.
“My Lord! A major catch.”
“This is why it’s urgent that you come, Inspector. This is just what the mob of journalists has been waiting for. Once they hear what happened, there will be no stopping them.”
“Who’s on site?”
“Four or five gendarmes, one investigating judge, a prosecu- tor, and Inspector Bissing.”
Horlitz raised an eyebrow. “So tell me, if you already have an inspector on site, why am I needed for this matter?”
“Bissing knows the professor personally,” the messenger explained.
“I see.” The inspector’s gaze wandered restlessly around the room until it found the crime scene artist. Later, Bentheim would look back on this moment with excruciating clarity. This was the critical moment when the course was set for the rest of his life. When the goddess of fate had mercilessly decided to force him to look at the abyss of the human soul. “My dear artist,” Horlitz said, “I apologise, but your working hours have just been extended.”
Marienburg Street slowly came back to life. The first horse- drawn cart started to rumble over the cobblestones and peasant women brought their goods to the city’s markets. The tenement dwellers knew nothing about the crime committed on the top f loor, however. Julius Bentheim sat across from the inspector in a landau, a convertible four-seat, four-wheel car- riage. Because the July night had been muggy, they drove with the carriage hood down. In silence, they had ridden a bit less than half a Prussian mile when the coachman reached their destination and stopped the horses.
“Let’s get out,” Horlitz grumbled.
They swung themselves out of the carriage door. Young Bentheim was filled with nervous excitement. Although his studies afforded him hardly any free time, he loved the assignments that took him to the most outlandish places in Berlin. And his pay wasn’t bad. He mainly worked nights, and so he received extra compensation. Usually he was called up to sketch the evidence for burglaries. From time to time, he also came into contact with small-time criminals, whores, and pimps. Work was multifaceted and full of surprises, and that’s what Julius liked about it.
A gendarme was already waiting for them at the entrance. He greeted the two new arrivals with a nod and opened the door for them. He held a lantern that provided sufficient illumina- tion for the entryway. “It’s hard to find your way around here. A real labyrinth. The prosecutor told me to wait downstairs for you. When he’s right, he’s right.”
They climbed the steps that Lene Kulm had ascended just a few hours before. Out of breath, Gideon Horlitz said, “The pros- ecutor on duty today – is he tall and haggard and has his hair combed over from one side to the other to hide his bald head?”
“Yes, Inspector.”
Bentheim thought he saw a smile in the f lickering light of the lantern.
“Then it’s Theodor Görne.” “Right, that’s his name.”
“Hmm.” The inspector mumbled something unintelligible. He was 53-years-old with the beginnings of a paunch. His greying hair was perfectly coiffed. For 15 years, he had served as a major in a dragoon regiment before switching to the police. In November 1848, he had been involved in the disso- lution of the Prussian National Assembly by the army, a fact too embarrassing to ever mention.
There was something bizarre about the scene presenting itself to them when they reached the top f loor. Several people crowded together in a small room and got in each other’s way. On the right, a pale-faced woman who lived in the build- ing was being questioned by a gendarme; on the left in the hallway, the corpse of a young woman lay splattered with blood. Around her stood men wearing the uniforms of the Berlin police force.
Julius took the Mercier he’d inherited from his uncle out of his vest pocket and looked at the watch face.
“What’s the time?” Horlitz asked. “4:15.”
“The first tenants will be getting up soon. All hell will break loose when they notice the police are in the building. Come with me, Bentheim.”
The former Prussian soldier cleared a path to the gendarmes at the crime scene. A man was kneeling on the ground at the
right attic door. “Lene,” he kept muttering, “my Lene.” He looked stunned and his eyes were glassy. Anyone could tell from his distraught expression that he was suffering. Vulgar instincts like pity for a complete stranger were unknown to Gideon Horlitz, but young Bentheim felt bad for this creature.
With a nod of his head, one of the gendarmes pointed toward the second attic door, and Horlitz and Bentheim turned around. Together they entered the professor’s attic f lat. A fire was crackling in a stove in the centre of the room, spreading a welcome warmth. A small misshapen man with a fox-red mop of hair sat on a chair in front of the panelled back wall. The prosecutor named Görne had leaned over him and was talking to him without interruption. Somewhat to the side in front of the dormer window, two men were talking; one of them was Moritz Bissing, the inspector said to be biased in the case. When he saw Horlitz, he waved him over.
“Gideon! I’m glad you were able to come. May I introduce you to Investigating Judge Karl Otto von Leps.”
They shook hands. The hand of the judge – an ancient man with a bony skull – was icy cold.
“Pleased to meet you,” Horlitz said deferentially.
Bissing continued: “I have informed His Honour that the confessed murderer is, like myself, a member of the anthro- pological Renan and Feuerbach Society and a correspond- ing member of the Prussian Academy of Sciences. Professor Goltz and I have already met at various gatherings and are acquainted with each other. I therefore took the liberty of sending a messenger for you, Gideon, because I knew you were the inspector on night duty.”
“Can you tell me what steps have already been taken?”
“Forgive me, Inspector, if I interrupt,” the judge said. “But now that you’re here, Inspector Bissing’s presence is no longer required. His acquaintance with the perpetrator is a sensitive matter and I hereby release him from his duties.”
Moritz Bissing nodded wordlessly, gave Horlitz a friendly pat on the shoulder, and withdrew. Karl Otto von Leps took a sharp look at the young artist, who was standing two steps behind the inspector and had heard everything. “And you are… ?”
“My protégé,” responded Gideon at Bentheim’s side.
“Good, good. So let’s start at the beginning: the neighbour, a widow named Bettine Lützow, gave the alarm. Accord- ing to her statement, Professor Goltz calmly knocked at her door and informed her that he had just committed a murder. Mrs Lützow was terrified – who could blame her? She can’t remember the exact wording of the confession, but Goltz said something like: I’ve just killed your neighbour.”
“Did he say ‘killed’? Or ‘murdered’?”
“Unintentional homicide can be ruled out, if that’s why you’re asking. He acted methodically. The victim, by the way, is a 21-year-old helper at the slaughterhouse, Magdalene Kulm, whom everyone called Lene. She has a record with us because she was a part-time prostitute and has been arrested before.”
“Magdalene,” the inspector mused. “Nomen est omen. What happened then?”
“The professor calmly went back to his room, where he waited for the officers to arrive.” With a quick arm movement, the old judge pointed to the red-haired man. “Since then, he’s been sitting on his chair and refusing to speak.”
“Who’s the poor fellow in the hallway?”
“According to Mrs Lützow, he’s Miss Kulm’s fiancé. I think he’s more likely her lover and her pimp. But you have to admit he’s badly shaken. Now it’s your turn, Horlitz: do something with this case. Lend the prosecutor a helping hand before he blunders again.” He lowered his voice and added, “Between you and me, everyone knows he’s a disgrace to his profession.”
Julius Bentheim looked at the f loor, embarrassed. If it’s already come this far that a judge is compromising his own prosecutors, that only makes the justice system’s bad reputa- tion worse in the eyes of the public. At Molkenmarkt, Police Headquarters and the Town Magistrate were both housed in the former palace of Field Marshall von Grumbkow. In 1771, the Criminal Court had moved in right next door, into the former palace of Count von Schwerin. Because police power was so often arbitrary, the entire complex of buildings was considered a place of horror.
The inspector cast a sorrowful glance at Theodor Görne, who was struggling to get the suspect to talk, and he shrugged his shoulders in resignation. “My dear Julius, watch and learn. And take down the report. You can do that, can’t you? You have plenty of pencils and paper, in any case.” He walked around the stove and offered to take over the questioning from the prosecutor. Görne patted down a few stray hairs with his left hand and was relieved to accept the offer.
“Your suspect,” he said tersely.
Gideon Horlitz crouched down in front of the stout man with the red beard and looked at him carefully. He looked like the mountain spirit Rübezahl with his paunch and his wild, shameless expression. To his surprise, a smile appeared on the face of the professor, and the man even spoke: “Ah, the new inspector. Then we can finally get to work. We don’t want
to cause a justice scandal now, do we? It’s commendable that good old Moritz recused himself. So, how can I help you?”
Horlitz gave Bentheim a perplexed look. Bentheim had already sharpened a graphite pencil and written down what had been said in cursive German shorthand. He used the system created by Franz Xaver Gabelsberger, a ministerial official from Bavaria who had died 16 years before. It was practical and easy to decipher, and Julius also used it to take notes for his lectures at the university.
“Well, ah,” Horlitz stammered, “do you have something to say, Professor?”
“Not at all. As far as this tricky case goes, I invoke my right to silence. As soon as you have transferred me to Grumbkow Palace, I want you to provide me with a public defender. I want him to take care of everything for me. This will make it easier for me to continue my studies. All this police business just tires everyone out. Don’t you think, Mr… ?”
“Gideon Horlitz.”
“Ah, Gideon. One of the six judges of the tribes of Israel. A beautiful name. Translated, it means ‘the feller, the destroyer.’ Let’s hope that you won’t destroy this criminal case, Gideon. And that the case won’t destroy you.”
A diabolic smirk f litted over his face, and then he looked genial and as meek as a lamb again.
“Are you refusing to testify?” “I am.”
“Fine, if you don’t want to talk, there’s no sense in continuing. I will arrange your transfer to Molkenmarkt.”
“Very kind of you. But it’s not as if I want to wrap myself com- pletely in silence, Inspector. I’m happy to have a chat now and then. You can choose the topic. Literature, philosophy, music – what would you like?”
“How about medicine? The pathology of the insane?” Horlitz retorted.
“Well, well, Inspector! Why so irascible? To show understand- ing for your difficult situation, I would like to give you some advice.”
“Advice?”
“Yes, advice. Like a recommendation, or a hint, as it were: be sure to compile an inventory.”
Gideon Horlitz straightened up to his full height. His expres- sion had become impenetrable again. Julius Bentheim’s graph- ite pencil rested on the paper without moving. The crime scene artist observed his mentor with interest. Horlitz was moving his jaw and grinding his teeth. With a gruff move- ment of his hand, the police officer finally asked the professor to get up. A gendarme who had observed the scene from the hallway approached.
“Take him away.”
Botho Goltz let himself be escorted to the door without resist- ing. Young Bentheim’s eyes followed him. Before the man with the red hair disappeared down the hallway, he heard him say, “It’s getting colder, isn’t it? It must be time to put on another piece of firewood…”