Ich esse Kartoffelpüree mit gebackenen Zwiebelringen. Lore hat es gekocht. Es schmeckt ziemlich o.k., vor allem die Ringe. Trotzdem ist sie eine Polackenhure. Ich trinke lauwarmen Pfefferminztee. Auf dem Parkplatz fährt Gerstmann mit dem Schneepflug kreuz und quer und macht die Fläche frei. Es wird morgen wieder schneien, daher ist es völlig sinnlos. Gerstmann macht sinnlose Arbeit und bekommt dafür Geld von uns. Manchmal nimmt er sich einfach ein Auto und fährt damit in der Gegend rum. Er behauptet dann, das Auto muss eingefahren werden oder so. Vater sagt, nach Reiter, dem Verkaufschef, ist Gerstmann der wichtigste Mann in der Firma. Weil er den Überblick hat.
Daniel ist wieder da. Er liegt in seinem Zimmer und schläft. Früher hat er nicht so lange geschlafen. Er sagt, er muss auftanken. Er sagt, nach vier gefickten Monaten Entbehrung muss er erst einmal so richtig auftanken.
Die Klappe des Geschirrspülers klemmt. Ich lasse den Teller neben der Spüle stehen. Lore soll ihn wegräumen. Daniel sagt, sie betet zu Hause zu einem wundertätigen Heiligenbild, danach treibt sie es mit verschiedenen Männern. So machen es alle diese Polackenhuren. Außerdem haben sie alle fürchterliche Frisuren, meistens hellblond.
Ich nehme mir ein Stück Christstollen vom Teller. Er ist aus der Konditorei und schon eine Woche alt. Mutter sagt, es ist so viel Fett drin, dass er nicht verdirbt. Er schmeckt auch so. Ein wenig vielleicht nach Vanille. Das zweite Stück schmeckt praktisch nur noch nach Fett. Es ist ein Wunder, dass ich nicht mehr aus dem Leim gehe. Das behaupten alle, die gesehen haben, wie ich essen kann. Daniel sagt, wer innerlich genügend aufgeladen ist, kann essen, was er will, ohne dick zu werden. Wobei das mit Sicherheit nicht hundertprozentig stimmt, denn unserem Vater hängt zum Beispiel der Bauch über den Gürtel, und aufgeladener als er geht gar nicht.
Die Tür zu Daniels Zimmer ist geschlossen. Ich stelle mir vor, wie er auf dem Bett liegt, auf dem Bauch, und den rechten Arm um den Kopf gekrümmt hat. Irgendwann wird er mir alles erzählen, was drinnen passiert ist, hat er gesagt. Er sagt immer ‘drinnen’, und er sagt, er wird es merken, wenn ich so weit bin. Er hat in den letzten viereinhalb Monaten jedenfalls trainiert. Um das zu wissen, muss man nur seine Arme anschauen. ‘Du bist ja schon wieder gewachsen’, hat unsere Mutter gesagt, als er nach Hause kam. Er hat gar nichts gesagt.
Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Dinge: mein Game Boy SP und dieser Zeitungsausschnitt. Genau genommen ist es die Kopie eines Zeitungsausschnittes, die mir Daniel gestern gegeben hat. ‘KURIER’, Seite vier. War es wirklich ein Unfall?’, total fett gedruckt, mit rotem Filzstift unterstrichen. Darunter die Geschichte eines alten Mannes, der dadurch gestorben ist, dass ihm jemand den Kopf kaputtgemacht hat. ‚Der Kopf des Mannes war bis zur Unkenntlichkeit
entstellt’, steht da. Der Mann heißt Sebastian Wilfert und er wohnt angeblich in Richtung Mühlau, oberhalb der Stadt. Neben dem Text des Zeitungsartikels ist ein Bild des Mannes abgedruckt. Man kann allerdings nicht erkennen, wie er ausgesehen hat, denn das Gesicht ist rot übermalt, in dicken Kringeln. Es könnte irgendein Gesicht gewesen sein. ‘Die Macht wird Besitz ergreifen von dir’, hat Daniel gesagt, als er mir den Artikel in die Hand gedrückt hat. Ich hab im ersten Moment nicht gewusst, was er damit meint. Dann hat er mir eine geknallt. Das hilft bei mir immer. Das macht die Leitungen frei.
Die Autorennbahn steht vor meinem Bett. Eine riesige Acht, vierspurig. Mein Vater hat gesagt, in meinem Alter braucht man eine Autorennbahn. Er hat auch eine gehabt. Ich schalte ein und setze den gelben Wagen mit dem blauen Doppelstreifen in die Spur. Ich nehme den Controller und fahre eine Runde, ganz langsam. Wenn ich ehrlich bin, scheißt es mich ziemlich an. Eine Runde in F-Zero GX, Devil’s Dungeon zum Beispiel, mit dem Blue Falcon, bringt es tausendmal mehr. Wenn ich das meinem Vater sage, sagt er nur: zwei Wochen CV, und CV heißt Computerverbot. Wenn ich ihm dann noch sage, ein Gamecube ist eine Konsole und kein Computer, bekommt er die Pupille und es gibt leichte KV. KV heißt Körperverletzung, das habe ich von Daniel und ich sage es keinem anderen.
Ich zische ab, gehe knapp vor der Kurve mit dem Tempo zurück und gebe unmittelbar am Kurvenscheitel wieder Vollgas. Wenn du nicht wirklich total behindert bist, hast du das nach ein paar Stunden im Finger.
Wie geht einem alten Mann drei Tage nach Weihnachten der Kopf kaputt? Alte Leute rutschen aus und brechen sich den Oberschenkel, o.k., und Gartenbesitzer greifen in den Häcksler, weil sich die Zweige vom Fliederstrauch verklemmt haben, und schon ist die Hand ein Matschklumpen – aber der Kopf?
So in die Kurve hineinfetzen, dass das Heck richtig wegbricht, aber der Wagen trotzdem in der Spur bleibt, das ist die Kunst. Am Anfang gibt’s natürlich einen Überschlag nach dem anderen, und da stehen sie dann und sagen: In kürzester Zeit wirst du sämtliche Autos ruiniert haben! Und: Ich hätte es ja wissen müssen – warum solltest du dich plötzlich anders verhalten als sonst?! Und du merkst, wie sie dir die Sache nur deswegen nicht auf der Stelle wieder wegnehmen, weil Weihnachten ist.
Ich wette, die Leute gehen zu diesem Haus und wollen Leiche schauen. Ein jeder will diesen Kopf sehen, der keiner mehr ist, aber da ist alles abgesperrt und die Polizei lässt niemanden hin. Irgendeiner regt sich bestimmt auf und sagt einen Scheiß wie: Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Information!, und dabei stellt er sich dieses rote Matschding vor und wie vielleicht ein Stück
Zahnprothese herausragt.
Ich setze den blauen Wagen mit dem weißen Stern in die dritte Spur und nehme den Controller dazu in die linke Hand. Ich bin ein hoffnungsloser Rechtshänder, daher dauert es genau eine halbe Runde, bis es den Blauen raushaut. Da er mein Lieblingsauto ist, werde ich ein wenig zornig. Autos rein, Vollgas, zack! Salto mortale! Noch einmal. Und noch einmal.
Dann steht Daniel in der Tür. Er hat die Kapuze von seinem grauen Pulli in die Stirn gezogen. Das hat er sich in letzter Zeit so angewöhnt. Er geht auf mich zu und knallt mir eine. Es ist o. k.; ich hab vermutlich einen Höllenlärm gemacht. ‘Hast du den Artikel gelesen?’, fragt er. ‘Ja’, sage ich.
‘Hast du dir alles eingeprägt?’ ‘Ich denke, schon.’
Er knallt mir noch eine, eine leichte diesmal. ‘Ich bin dein Imperator’, sagt er, ‘und du bist mein Geschöpf.’
Ich sage gar nichts. Ich atme wie Darth Vader.