Doch mich hatte eine große Sprachlosigkeit ergriffen. Ich hätte meinen Menschen, den wenigen, die mir noch geblieben waren, sagen sollen, wie sehr ich sie liebte. Stattdessen ging ich unruhig und getrieben von etwas, das ich nicht fassen konnte, durch die alte Landschaft.
Ich sah meinem Sohn beim Lesen zu, bewunderte ihn für seine Ruhe und Ausgeglichenheit, beides Eigenschaften, von denen ich doch auch wusste, dass sie innerhalb von einer Sekunde in eine nichts verzeihende Wut, auch sich selbst gegenüber, umschlagen konnten. Mit Neid bewunderte ich, wie wenig irritiert sich meine Frau von meiner Unruhe zeigte, wie ungerührt sie mit ihren Arbeiten weitermachte. Ich dagegen sprang vom Schreibtisch auf, sobald ich gerade einmal einige Dateien geöffnet, blind für ihren Inhalt gebannt auf den Bildschirm gestarrt hatte, um letztlich doch bewegungslos zu bleiben: Um mich herum schien alles in Bewegung, diese offensichtliche Entwicklungshaftigkeit von allem Vergangenem, die nicht zuletzt in allen diesen Artikeln in meinem Notebook nicht nur vorgefunden, sondern geradezu gefordert wurde, wünschte ich mir für meine Gegenwart auf einmal nicht mehr.
Am Abend des gleichen Tages hatte ich Anna und Moritz trotz andauernden Protests zu einem langen Spaziergang die Wiesen hinauf in Richtung des Berges gezwungen. »Erpresser«, hatte Moritz gezischt, dann hatten wir alle drei gelacht, weil es ja auch lustig geklungen
hatte. Ohne es zu wollen, versäumte ich den richtigen Moment, ein Gespräch zu beginnen. Danach, das wusste ich aus Erfahrung, würde sich nun auch keines mehr ergeben. So stapfte ich missmutig wegen der nicht ergriffenen Chance, ansonsten aber fasziniert von der Umgebung vor den beiden bergauf. Ich sah verwirrt nach vorne und dann wieder nach hinten, trotz des hohen Grases glaubte ich, auf gepflegtem Grund zu spazieren, zu einem Garten hinter einem schmiedeeisernen Gitter, alt und gut verrostet, der ein vielleicht ehrwürdiges Haus umschloss (tatsächlich dachte ich an ein Spukschloss). Da erst fiel mir ein, dass ich genau das vor ein paar Tagen, noch in der Stadt, geträumt hatte. Dass ich mich nämlich in einem verwilderten Garten in einer Landschaft, die genau dieser dort ähnlich schien, verirrt hatte. Dass es geregnet hatte und ich durch wucherndes, knotiges Gras gehen hatte müssen, das genauso wild wie jenes draußen vor den Gittern gewesen war. Von wegen gepflegt, dachte ich missmutig, nichts passt mehr zusammen.
Wir gingen den Höhenweg weiter, bis wir an eine Weggabelung kamen. Ein gelbes Schild mit Schwarzer Schrift auf einem Metallpfosten, der in einem Loch mit frischem Beton aufgefüllt steckte. Beim letzten Mal im Mai war hier noch kein Wegweiser gestanden. Der Beton war noch feucht. Wir befanden uns, las Moritz vor, auf dem Weg des Buches.
»Mit Unterstützung von Bund, Land und Europäischer Union«, las ich weiter und wir lachten. Zu gut um wahr zu sein.
Später am Abend im Bett las ich Anna vor, dass das Projekt des Bücherwegs eine Route nachstellte, auf der früher protestantische Bücher vom romkritischen Norden in den Süden geschmuggelt wurden. Und wie sich gerade in diesen schwer erreichbaren Tälern eine beinahe alles ergreifende Art des Protestantismus auch in Zeiten der Gegenreformation gehalten hatte. Ich war begeistert. Sie dagegen murmelte mit wenig Interesse und unter tiefen Atemzügen, dass ich das unbedingt Moritz erzählen müsste. Ich lag wach und dachte wie benommen über die Alpen nach, in deren Mitte wir, wie in all den Jahren zuvor schon, unseren Urlaub verbringen würden. Wie auf denselben Wegen und Straßen, die die römischen Legionen nach Norden benutzt hatten, so viele Jahrhunderte später Bücherschmuggler nach Süden gezogen waren, deren Weg sich mit jenem eines spanischen Elefanten und dessen Kaiser und Besitzer kreuzte, die in eine andere Himmelsrichtung zogen. Was absurd erschien, hatte ich dennoch mit Moritz im Frühjahr bei einer Führung entlang Wiens antiker Spuren erzählt bekommen. Mir persönlich war die Geschichte des Elefanten Soliman nicht bekannt gewesen, aber um mich herum hatten alle ganz informiert getan und über den triumphalen Einzug in Wien im Jahr 1552 geredet. Eine völlig verrückte Reise, auf der das Tier von Spanien ausgehend über das Mittelmeer bis Genua, und von dort durch die Alpen, angeblich immer in Begleitung seines neuen Herren, dem späteren Kaiser Maximilian II., wanderte. Ich erinnerte mich in diesem dunklen Moment in der Nacht in unserem Ferienhaus, dass ich die Führerin noch hatte fragen wollen, ob Maximilian tatsächlich die ganze Reise seines Elefanten von Spanien bis Genua und weiter durch die Alpen mitgemacht hatte (hatte er, was damals unvorstellbar für mich war). Aber sie war bereits von einigen Hobbyhistorikern belagert worden und so hatte ich mich dezent mit einem Handwinken von der sympathischen Frau mit dem Minirock und der guten Kurzhaarfrisur verabschiedet, was sie naturgemäß nicht bemerkte, und war mit Moritz in ein Kaffeehaus gegangen. Ich lag da und dachte über ihren letzten Satz nach, dass nicht zuletzt eine Reihe von Gasthäusern an der Reiseroute des Elefanten nach dem wundersamen Tier benannt worden war. Eine schöne Vorstellung, dass das außergewöhnliche Erlebnis in Erinnerungsstätten verewigt worden war. Was musste das für ein Gefühl gewesen sein, dem Elefanten gegenübergestanden zu sein und noch Jahre später davon erzählen zu können?
Seltsam erschien mir das alles, noch viel seltsamer als es den Menschen von damals vorgekommen sein musste. Dass so ein gewagtes Tier aus kühnen Träumen eine so starke Faszination ausübte, wunderte mich keineswegs, nein, das Irritierende war, fand ich, wie dieser Moment, der ja doch wie ein Blitz eingeschlagen sein musste, sich weiterentwickelte, über Generationen hinweg. Die nächsten Generationen sahen ja nicht mehr den Moment des Ereignisses, sondern nur mehr die Erinnerung in Form der Gaststätten, ein Bild, das ich sympathisch fand. Ja, mehr noch, nur durch diese Stätten selbst
konnte das mächtige Ereignis überhaupt weiterwirken. Die Herrscher, oder der Elefant selbst, sie interessierten mich nicht so sehr, wie ihre Träger und Bewahrer in den folgenden Jahrhunderten. Es waren meine, unsere, Gedächtnisstützen, die mir entscheidend für das Verständnis eines Ereignisses erschienen. Darüber dachte ich ganz nüchtern und logisch nach, weil es mir als das kraftvollere Bild als das der banalen Reisenden alleine erschien. Und als ich da so in den Schlaf spazierte, ergaben die Alpen ein noch viel bunteres Muster, wie in einem Webstück, das gar nicht so recht zu dem gesichtslosen Bild passen wollte, dass ich bis dahin von dieser Region gehabt hatte.