Diaspora
Am dritten Sonntag im Januar fuhr ich von unserem Viertel aus mit der U-Bahn zur Hasenheide am Südstern, auf die andere Seite der Stadt. Dort gab es eine Kirche, in der sich die polnische Gemeinde traf. Ich war nur einmal im Inneren der Kirche gewesen, und auch nicht zur Messe, sondern um mir die farbigen Fensterbilder der Heiligen anzuschauen. Genau gegenüber der Kirche befand sich das Lokal Mały Książe, Der kleine Prinz, und wenn man zur richtigen Zeit eintraf, dann bekam man noch einen Tisch, bevor das Restaurant, an das ein Laden mit Lebensmitteln angeschlossen war, sich mit Familien und älteren Herren und Damen füllte, die aus der Sonntagsmesse kamen. In dem Restaurant wurde Polnisch gesprochen, aber jeder Gast sprach auch Deutsch, und die zwei jungen Bedienungen sprachen beides ohne Akzent, sie waren, so glaubte ich, die Töchter des Lokalbesitzerehepaars, die an Sonntagen aushalfen.
Als ich den Raum betrat, waren alle Tische noch frei, aber kurz nach elf begann der Raum sich zu füllen. Es setzte sich, weil die Leute bald zwischen den Essenden standen und ihnen, um abzuschätzen, wann ein Platz für sie frei werden würde, auf die Teller schauten, ein älterer Herr zu mir. Er war in einen grauen Anzug mit weißem Hemd und goldgelber Krawatte gekleidet und trug am kleinen Finger einen goldenen Siegelring, dessen Wappen einen Schild und zwei gekreuzte Degen zeigte. Wir mussten beide nah an den Tisch rücken und uns vorbeugen, hinter uns drückten die Leute gegen unsere Rücken, im Raum dröhnte es wie in einer Abflughalle.
Er fragte mich, ob ich die Pierogi, die ich gerade zu essen begonnen hatte, empfehlen könne, und ich sagte, dass es zwar nicht die besten seien, die ich je in meinem Leben und vielleicht auch nicht die besten, die ich je in dieser Stadt gegessen hätte, aber dass sie trotzdem gut seien. Und so bestellte er bei einer der zwei jungen Frauen, die sich durch die Menge zu uns vorgearbeitet hatte, eine Portion Pierogi.
Wir sprachen Polnisch miteinander. Es stellte sich heraus, dass er aus Südpolen stammte, aus einer Stadt in der Nähe der Stadt Opole, aus der meine Familie kam und in der ich geboren worden war und die ersten zehn Jahre meiner Kindheit verbracht hatte.
Dann waren Sie gerade auch in der Kirche?, fragte er.
Nein, ich war nicht in der Kirche, sagte ich.
Ist denn etwas passiert?
Nein, ich gehe einfach nur nicht in die Kirche, sagte ich.
Er warf mir einen besorgten Blick zu. Für einen Augenblick fühlte ich mich wie ein Betrüger, der hierhergekommen war, um von der gereinigten Stimmung und der Erhabenheit der Kirchgänger um uns herum zu profitieren.
Er fragte mich, was ich beruflich machte, und ich sagte, dass ich Schriftsteller sei.
In welcher Sprache schreiben Sie?
Auf Deutsch.
Und worüber?
Ich schreibe Erzählungen über verschiedene Dinge, zuletzt über meine Familie und Leute, die ich kenne, sagte ich. Ich habe drei Erzählbände veröffentlicht.
Ach so, sagte er.
Er sagte, dass er Handwerker sei und schon seit über fünfzig Jahren in der Stadt lebe. Er sei in den 60er Jahren zur Zeit der Proteste geflohen und habe hier seine Frau kennengelernt, die aus Lublin gewesen und vor sieben Jahren verstorben sei. Nun lebe er allein, ein paar Straßen weiter.
Was für eine Art Handwerker sind Sie?, fragte ich.
Klavierstimmer, sagte er. Er höre aber inzwischen schlecht, andernfalls könnte er sich noch heute, mit 81 Jahren, etwas dazuverdienen, da in den reicheren Stadtteilen Berlins viele ein Klavier zu Hause stehen hätten. Er habe auch ein Haus in seinem Heimatort, aber er kenne dort niemanden mehr. Sein Sohn und seine Tochter machten dort manchmal Urlaub mit ihren Familien.
Seine Pierogi waren gekommen, und er war eine Weile mit dem Essen beschäftigt. Ich fragte ihn, wie sie ihm schmeckten, und er sagte, dass er schon mal bessere gegessen habe, aber auch schon mal schlechtere.
Ach, schauen Sie, sagte er dann, Richtung Theke deutend, an der die Leute vor der Kasse in der Schlange standen, um die Lebensmittel aus dem Laden zu bezahlen. Da ist Frau Halina.
Vom Eingangsbereich des Restaurants winkte ihm eine Dame in einem roten Mantel zu, mit goldenen Ohrklipsen und gepudertem Gesicht und rot geschminkten Lippen. Sie kam in kleinen Schritten und sich umsichtig an den Stuhllehnen festhaltend zwischen den Rücken der Väter, Mütter und Kinder auf uns zu.
Guten Tag, Herr Rosowski, rief sie, lauter, als nötig gewesen wäre, direkt in sein Ohr. Sie lächelte mir freundlich zu, aber auch misstrauisch, als könnte ich ein Enkel ihres Bekannten sein, von dessen Existenz bisher keiner gewusst hatte. Die zwei anderen Stühle an unserem Tisch waren besetzt, es saß dort ein junges Paar, das sich, die Köpfe zusammensteckend, leise unterhielt. Ich stand auf und bot Frau Halina meinen Stuhl an, was sie aber ausschlug.
Bitte, sagte ich.
Ich war mit meinem Essen längst fertig, und die Geräuschkulisse im Lokal und die Leute, die noch immer standen und auf freie Plätze warteten, hatten mich erschöpft. Ich verabschiedete mich von Herrn Rosowski, der mich aber schon gar nicht mehr beachtete. Er war aufgestanden, half Frau Halina, sich zu setzen, und hängte ihren Mantel über meine Stuhllehne.
Ich habe mir eine Portion Pierogi bestellt, rief er ihr ins Ohr, während ich noch neben ihnen stand.
Ach schön, rief sie zurück und rückte den Stuhl näher an den Tisch heran.
Ich zahlte vorne an der Kasse, bei derjenigen der zwei jungen Frauen, von der ich glaubte, dass sie Małgorzata hieß, und trat in die kühle Winterluft hinaus, für einen Moment geblendet von dem grellen Himmel, der sich über die Kirche und den Friedhof auf der anderen Straßenseite und über die ganze Stadt spannte. Ich brauchte einen Moment, bis ich wieder wusste, wo ich war, und ging dann los, Richtung U-Bahn-Station.
Um mich waren spazierende Familien unterwegs. An der Kreuzung hielt ein Mann auf einem Fahrrad, hinter ihm zwei Kinder mit Helmen auf kleineren Fahrrädern. Die ganze Stadt schien unterwegs zu sein, obwohl die Luft schneidend kalt war. Ich ging an der U-Bahn-Station vorbei und an den Geschäften der Urbanstraße entlang zum Kanal, ich ließ mich von der Stimmung der Leute treiben. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass ich in der Kirche gewesen war, wie als Kind in der Familiensiedlung am Stadtrand von Opole, als ich die Geschichten über die Wunder, über die Hochzeit zu Kana, über die Königreiche der Engel und der Teufel noch geglaubt hatte.